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  • Writer's pictureOliver Behringer

Die Ärzte sagten: Keine Chance!

Trotz Krankheit verdient Oliver Behringer sein Geld als Sportler. Ein Sensor am Körper kontrolliert die Gesundheit des 25-jährigen Schweizers. Und doch lauern Gefahren.


Was er stets mit sich führt, hat die Form eines Kugelschreibers. Aber damit signiert Oliver Behringer keine Autogrammkarten. Nein, er braucht das Teil zum Überleben.


Behringer ist Radprofi. Und was wie ein Kuli aussieht, ist in Tat und Wahrheit ein Insulinpen. Damit injiziert sich der Zürcher regelmässig Insulin, so wie das alle 17 Fahrer im Team von Novo Nordisk tun. Die im Gesundheitswesen tätige Firma sponsert den Rennstall, in dem ausschliesslich Typ-1-Diabetiker unter Vertrag stehen. Sie sind von einer Autoimmunkrankheit betroffen, bei welcher das Immunsystem die Insulinproduktion in der Bauchspeicheldrüse angreift und Zellen zerstört. Ohne Zufuhr des Hormons würde der Blutzuckerspiegel in die Höhe schiessen.


«Viele von uns mussten von den Ärzten hören, dass wir Leistungssport vergessen könnten.»

Wobei: Behringer betont im Gespräch dutzendfach, dass er den Begriff Krankheit für unangepasst hält. Vielmehr spricht er von einer Begleiterscheinung, einem Umstand. Immer wieder erklärt er sich: Wie das als Diabetiker geht, professionellen Ausdauersport zu betreiben, dabei Unmengen an Kalorien zu sich zu nehmen, literweise Flüssigkeit zu verlieren. «Wir beweisen, was möglich ist», sagt der 25-Jährige. «Viele von uns mussten von Ärzten hören, dass wir Leistungssport vergessen könnten. Ich sage: Vergesst solche Aussagen!»


Wochenlang im Kinderspital


Behringer war elf, als er nach einer kurzen Velofahrt mit zittrigen Beinen und völlig erschöpft heimkam. Bald musste er 10- bis 15-mal pro Tag Wasser lassen; er hatte Heisshunger, ass und ass, verlor aber doch Kilo um Kilo. Sein Körper verlangte nach Energie, doch mit dem aufgenommenen Zucker wusste er nichts anzufangen.


Die Einlieferung ins Kinderspital hätte nicht später erfolgen dürfen – der Körper begann schon Restfett zu verbrennen. Verwundert rieben sich die Ärzte die Augen: Das Messgerät konnte die Höhe des Blutzuckers nicht anzeigen, zu extrem war der Wert.


Mehrere Wochen verbrachte Behringer in der Klinik, er wurde vorbereitet auf ein Leben mit Insulinpumpen, Pens und Nahrungstabellen. Lange studierte er sämtliche Lebensmittel genau, legte vieles auf die Waage. Aus Vorsicht, ein wenig auch aus Angst.


In der Pubertät litt Behringer psychisch unter dem Diabetes, er nahm ihm die Unbeschwertheit. Velo fuhr er kaum noch, zu viel Abschreckendes war ihm zugetragen worden. Erst nachdem er vor zehn Jahren an der Tour de Suisse mit den Verantwortlichen des Typ-1-Teams, dem Vorgänger von Novo Nordisk, in Kontakt gekommen war, baute er Hemmungen ab.


Während der Ausbildung zum Pflegefachmann trainierte Behringer nach Feierabend, an den nationalen Rennen aber blieb er einer unter vielen. Und doch besuchte der Seebub aus Stäfa 2016 ein Trainingscamp von Novo Nordisk. Er wurde in die Jugend-Mannschaft aufgenommen, lebte zwei Jahre am Stützpunkt in Atlanta. Seit 2019 ist er Profi. Der Lohn ist bescheiden, «es reicht zum Leben», wie er sagt.


Permanent ein Sensor am Körper


Auf den ersten Blick ist bei Novo Nordisk nichts aussergewöhnlich. Mal abgesehen davon, dass der Teamarzt mehr Gepäck mit sich schleppt, einen kleinen Koffer mit Diabetesutensilien für ein Tagesrennen, einen grossen für Rundfahrten. Und: Sämtliche Fahrer tragen einen «Continuous Glucose Monitor», einen rund einen Quadratzentimeter grossen Sensor, der alle paar Minuten den Blutzuckerspiegel misst. Befindet sich der Wert ausserhalb des Zielbereichs, können die Athleten umgehend reagieren.


Während der Trainings verpflegt sich Behringer wie andere Fahrer auch, isst Bananen, Müsliriegel, Energy-Gels. «Der Unterschied ist, dass ich mehr Protein, aber weniger Zucker zu mir nehme und nach jeder Kohlenhydratzufuhr Insulin spritze», sagt der 25-Jährige.


Am Buffet in den Teamhotels stehen digitale Küchenwaagen, sie sollen helfen, Glucoseschwankungen zu vermeiden. Gegenüber der «gesunden» Konkurrenz habe er an und für sich keine Nachteile, sagt Behringer. «Ich muss nur vorsichtiger sein, immer einen Schritt vorausdenken.»





Geht etwas schief, wird es problematisch


Behringer spricht von guten und schlechten Tagen, so wie sie jeder Profi habe. «Läuft bei mir aber etwas schief, gibt es Probleme.» Ist der Blutzuckerspiegel zu tief, droht ein Gefühl wie bei einem Hungerast, «da geht dann gar nichts mehr».


«Ein anstrengendes Rennen ist eine Extremsituation. Und in Extremsituationen passieren Fehler.»

Ein Glucoseüberschuss kann zu Krämpfen und gar zur Dehydratation führen, weil der Flüssigkeitsverlust enorm ist – über die Nieren scheidet der Körper reichlich Wasser und Zucker aus. Trotz Messgerät könne es zu Unkontrolliertheiten kommen, sagt Behringer. «Ein anstrengendes Rennen ist eine Extremsituation. Und in Extremsituationen passieren Fehler.» Es hat Etappen gegeben, die er wegen eines aus dem Ruder gelaufenen Blutzuckerspiegels abschreiben musste.


Es kommt vor, dass Behringer während eines Rennens Insulin spritzt, auch eine Pumpe trägt er stets bei sich. Das Hormon steht auf der Dopingliste, im Bodybuilding wird es zum Muskelaufbau genutzt. Für kleine Mengen erhalten Diabetiker eine Ausnahmebewilligung, sie brauchen es schliesslich zum Weiterleben. Missbrauch kann ausgeschlossen werden: Es käme zur Unterzuckerung – die Folgen wären fatal.


Die Frage: Was wollt ihr hier?


In diesem Sommer hätte Novo Nordisk an der Tour de France teilnehmen wollen, exakt 100 Jahre nach der Entdeckung von Insulin als hormonelles Hilfsmittel. Dazu kommen wird es nicht, für eine Einladung ist der Erfolgsausweis zu bescheiden. Im Zusammenhang mit einer Grand-Tour-Teilnahme spricht Behringer nicht nur von einer enormen physischen Herausforderung, sondern auch von einer psychischen. «Wir müssen noch mehr an uns glauben.»


Es brauchte eine Zeit lang, bis Novo Nordisk in der Szene akzeptiert wurde. «Wir müssen uns laufend beweisen», sagt Behringer, «wohl stärker als andere Teams.» Immer wieder hört man von Diskriminierungen im Radsport, in- und ausserhalb des Pelotons. In Ruanda äusserte sich ein Radiomoderator despektierlich über die Mannschaft, er warf die Frage auf, was diese an der Landesrundfahrt zu suchen habe. Die Reaktion der Equipe war eindrücklich: Der Spanier David Lozano gewann eine Etappe.


Bis 2023 ist das Sponsoring gesichert. Auch Behringers Vertrag läuft weiter. Er findet, dass die Krankheit für ihn Fluch und Segen ist. Ein Segen, weil er es ohne Diabetes – so absurd es klingt – wohl nicht zum Profi geschafft hätte. Dem Späteinsteiger fehlen viele Tausend Trainingskilometer, einer wie er hätte eigentlich ausser Rang und Traktanden fallen müssen. Er sagt: «Ein anderes Team hätte mir kaum so viel Zeit gegeben, mich zu entwickeln.»


"Tages Anzeiger" 01.06.2021

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